Arbeiterkind mit Bildungshunger:
Niemand hätte dem Landarbeiter und Bergmann politischen
Ruhm vohergesagt
von Wolfram Köhler
Der kleine, fast zierliche Mann war tief in den Sessel der ersten
Reihe der SPD-Fraktion versunken. Als plötzlich die lauernden
Fernsehscheinwerfer grell aufleuchteten und ihn in gleissendes
Licht tauchten, richtete er sich auf. Jeder im Plenarsaal
wußte in diesem Augenblick: Das Mißtrauensvotum
gegen Karl Arnold (CDU) war gelungen, und der neue Ministerpräsident
hieß Fritz Steinhoff.
Dieser 20.Februar 1956 war der Höhepunkt im Leben des SPD-Politikers,
der vor hun dert Jahren (Bem. Artikel von 1997) geboren wurde.
Niemand hätte ihm politischen Ruhm vorausgesagt, als er am
23.November 1897 als eines von elf Kindern einer Bergarbeiterfamilie
in Wickede, Kreis Dortmund, zur Welt kam. Als Schuljunge hatte
er die Ziegen und die Kuh von Verwandten hüten müssen.
Mit fünfzehn wurde er Landarbeiter und mit achtzehn Bergmann.
Im ersten Weltkrieg kam er als Torpedobootheizer zur Marine
- "Immer unter Deck, da konnten sie nur kleine Kerle gebrauchen," ironisierte
er sich später selbst. Die meuternden "roten Matrosen" von
Kiel, die das Kriegsende einleiteten, waren seine Kameraden. Steinhoff
gehörte zu jener Generation aufgeweckter Arbeiterkinder,
die jugendbewegt von einem ungeheuren Bildungshunger erfüllt
waren. Sie wußten: Wissen ist Macht! Hier wollten sie aufholen.
Der Verband der Bergarbeiter schickte den intelligenten jungen
Mann für zwei Semester auf die Akademie für Arbeit in
Frankfurt, wo Erik Nölting Wirtschaftstheorie lehrte,
später sein Ministerkollege. An der Deutschen Hochschule für
Politik in Berlin hörte er bei Theodor Heuss.

Ende der zwanziger Jahre war Steinhoff hauptamtlicher Parteisekretär
im Ruhrgebiet, dessen Sprache westfälischer Provenienz
er zeitlebens sprach. Nach 1933: Widerstand, Verfolgung und
viele Jahre Haft im Zuchthaus Herford und im KZ Sachsenhausen.
Jahre später erzählte er in kleinem Kreis, als verrate
er ein Geheimnis: "Ich hatte ins Zuchthaus ein Reclam-Heftchen
mit Goethes 'Faust' durchschmuggeln können. das war monatelang
meine einzige Lektüre". Er begann lächelnd zu rezitieren.
Bei Steinhoff war das nicht aufgesetzt, keine kokette Pose.
Er war eine grundehrliche Haut. Wer ihn etwas näher kennenlernte,
begegnete diesem eher spröden, etwas verschmitzten Manne
mit Achtung. Dem Landtag gehörte er seit dem 2.Oktober 1946
an, seit der Ernennungsphase. Insgesamt war er fünfzehn
Jahre Mitglied des Landtags.
Besonders geliebt hat er das Amt des Ober bürgermeisters
von Hagen, das er bald nach Kriegsende übernahm. Hier lernte
er die jungen FDP-Politiker kennen, mit denen er 1956 Arnold stürzte,
Willy Weyer und die Fabrikantentochter Liselotte Funke. Trotz der
großen ideologischen Gegensätze der damals ganz ungewöhnlichen
SPD/FDP-Zentrums-Koalition geriet das Kabinett Steinhoff
während der knapp zweieinhalb Jahre seines Bestehens
niemals in eine Krise oder Zerreißprobe. Der Ministerpräsident
kümmerte sich um die große Linie und die Bundesratssachen.
Seine Ressortkollegen ließ er ohne Dreinreden arbeiten.
Die leidige Konfessionsschule wurde nicht erneut zum Problem
gemacht. Dafür wurde Praktisches erledigt: Verbesserung der
Lehrerausbildung (an Universitäten) und des zweiten
Bildungsweges, Gründung der TH Dortmund, energische Förderung
der Atomforschung und Errichtung der Kernforschungsanlage
im Stetternicher Forst bei Jülich.

Dann aber: Am 19.Dezember 1956 unterzeichnete Ministerpräsident
Steinhoff, der keiner Kirche angehörte, in der Päpstlichen
Nuntiatur in Bad Godesberg den Vertrag über die Errichtung
des Ruhrbistums Essen. Auch auf die anderen Diözesen des Landes
und auf die evangelischen Landeskirchen ging in Gestalt von
Kirchenverträgen
unter Steinhoff ein warmer Regen an Geld und Privilegien nieder.
Steinhoffs Regierungsbilanz konnte sich sehen lassen. Natürlich
hat er vieles nur fortgeführt und zu Ende gebracht, was schon
unter Arnold angelaufen war.
Sein kluges Verhalten lag aber gerade darin, daß er nicht
aus ideologischem Eifer oder eitler Besserwisserei alles umkrempeln
und die Landespolitik neu erfinden wollte. Steinhoff hat die Landesgeschäfte
mit der praktischen Vernunft eines Oberbürgermeisters
geführt, der nicht auf rosaroten Wolken schwebte. Ihm halfen
dabei Mutterwitz und eine Portion Bauernschläue. Beim
Wähler fiel das Steinhoff-Weyer-Experiment mit Pauken
und Trompeten durch.
Bei der Landtagswahl im Sommer 1958 errang die CDU die absolute
Mehrheit. Steinhoff verließ sein Feld, die Kommunal-und Landespolitik,
und ging in den Bundestag. Dabei spielte auch eine Rolle, daß die
SPD ihren Fraktionsvorsitzenden nicht mehr wollte. Als Oppositionsführer
war er ihr jetzt nicht mehr energisch genug, zumal die SPD durch
Wahlniederlagen im Bund und im Kommunalen zu dieser Zeit arg gebeutelt
wurde. Die neue Liebe der Fraktion galt dem Rechtsanwalt Fritz
Kassmann, dem brillianten Redner im Maßanzug - die SPD auf
dem Wege von der Arbeiter- zur Volkspartei. Steinhoff litt an seiner
Rolle als Hinterbänkler im sterilen "Raumschiff Bonn".
Neue Hoffnung kam auf, als es um den Spitzenkandidaten für
die Landtagswahl 1962 ging. Steinhoff war noch immer populär.
Aber er wollte zunächst nicht, dann doch, weil die Freunde
drängten. Aber auch Kassmann hatte Freunde. Dramatische
Versammlungen, Kampfabstimmungen, Verzichte...Der Spitzenkandidat
für 1962 hieß schließlich Heinz Kühn. Das
politische Schicksal Steinhoffs war damit endgültig besiegelt.
Den Bezirksvorsitz Westliches Westfalen, den er einst von Fritz
Henssler "geerbt" hatte, gab er an Werner Figgen.
Als Fritz Steinhoff im Oktober 1969 starb, knapp 72 Jahre alt,
war es schon lange einsam um ihn geworden. Ein paar alte Kampfgefährten
hielten Freundschaft mit dem kinderlosen Ehepaar. Heinz Kühn
sprach in seiner Totenrede von den Tiefen und Höhen im Leben
dieses bescheidenen, eindrucksvollen Mannes.
zum 100. Geburtstag von Fritz Steinhoff 1997 |